Diese Sammlung von Kurzrezensionen erschien – in gekürzter Form – zuerst als Kolumne mit dem Titel „Gefunden!“ im September 2009 im INTRO #175.

The_Bird_and_the_Bee_-_Ray_Guns_Are_Not_Just_the_Future-CoverThe Bird and The Bee – „Ray Guns Are Not Just The Future“
(Blue Note Records)

„Lady’s and Gentleman, … a recording for Blue Note Records“ – die Ansage, mit der Pee Wee Marquette 1954 das Art Blakey Quintett im Birdland ankündigte, gilt auch für das vorliegende Werk: Mit einem retrofuturistischen SciFi-Tusch beginnt, nach dreijährig dichter VÖ-Folge das zweite Album von The Bird And The Bee. Die beiden Tierchen fliegen hier durch kaugummiblasenrunden, wie luftleichten Milchstraßenpop, Zuckerglasiert und regenbogen-raffiniert. Space-Age-Twee aus der Sterntalerdiskothek. Phil Spector lässt grüssen, mit Van Dyke Parts wurde gar schon gemeinsam musiziert. Kluger Girlpop-Charme scheint durch die glöckchengute Stimme von Inara George – die hepburnsche Holly Golightly intergalaktisch auf Reisen. Ein Platte mit 14 potentiellen Singles. Zu verschmitzt, um explizit Mainstream sein zu wollen, aber zu schön, als dass man es überhören kann. Nimmt sogar dein Werbeclip-, äh, Musikvideosender zwischen Lily Allen, Kylie Minogue und Cocktailtrinkertunes ins Programm.

olafur-arnalds-found-songs-coverÓlafur Arnalds – „Found Songs“
(Erased Tapes)

Seine Brücke zum neuen Album im Winter. Sieben Song gewordene Einblicke in sein musikalisches Moleskine, geschrieben und veröffentlicht in sieben Tagen. Ólafur Arnalds twitterte seine Stücke ins Netz, die Hörerinnen und Fans beflickerten es mit Artwork. DAS ist Web 2.0.! Jetzt gibt es die Resultate auch als 10“ und CD. Neoklassizismus fortgeschrieben in  isländischem Kammerpop aus Eric-Satie-Piano und bittersüßen Streicherwolken. Dazu Soundnebel mit erahnbaren, minimalelektronischen Klangfetzen. War nicht umsonst Support von Sigur Rós.

J-Tillman–Year-In-The-KingdomJ. Tillman – „Year In The Kingdom“
(Bella Union / Cooperative Music / Universal)

Ähnlich seelenwandlerisch, nur mit Gesang: Fleet Foxes Schlagzeuger Joshua Tillman veröffentlicht mal eben sein sechstes Soloalbum. Schwappend mäandern die Songs auf behutsamen Arrangements durch die (Ge)Zeiten seines Jahres im titelgebenden Königreich. Hat zuweilen was von den mondluftumwehten Leuchtturm-Lullabys der Red House Painters. Die trocken-akustische Produktion, aus denen sich mit eindringlichen Choralharmonien und Dulcimer sowas wie eine eine sakral-ätherische Dimension eröffnet, lässt auch an Nick Drake und Damien Rice denken.

Sleeping States–In The Gardens Of The North-CoverSleeping States – „In The Gardens Of The North“
(Bella Union / Cooperative Music / Universal)

Selbes Label wie J. Tillman. Aber ungleich energetischer. Im Opener kratzen schwellende Feedbacks an einem stoischen Basslauf. Im Folgenden wechseln sich dissonant-getriebene Stücke mit jazzerprobtem Velvet-Indie und Valium-Vocals ab. Jim O’Rourkes „Eureka“ könnte Blaupause sein. Als Inspirationsquellen scheinen hier Robbie Basho, Jorge Luis Borges und der schizophone Soundforscher R. Murray Schafer auf. Diese neun wohltemperierten Theatraliken mit Growerqualitäten geben einen ganz passablen und unverquasten Galeristen-Indie ab.

the-invisible-the-invisible-coverThe Invisible – „The Invisible“
(Accidental / PIAS)

Ein Y2K-typischer Overload aus Allem und Nichts. Einigermaßen ereignislos wird hier in sloganhaften Wiederholungen über eklektischem, supertighten, aber letztlich unwichtigem Electrofunk von Lebensgefühlshülsen gesungen. Leider schon viel zu oft gehört. Ein wenig faktengelagerter Fürsprech soll aber doch noch sein: Matthew Herbert hat produziert. Hot Chip haben geremixt. Werden gern als die britischen „TV On The Radio“ gehandelt. Sind trotz Bandnamen in Zukunft sicherlich gar nicht so unsichtbar, sondern in mancher Playlisten der casual Hype-Follower zu finden.

Die Skeptiker – Fressen Und Moral - CoverDie Skeptiker – „Fressen Und Moral“
(Rozbomb Records)

Wo andere Bands einen mit schwarz-weissen A4-Zetteln bewirtschaften, schicken die Skeptiker ein glossy Promo-Faltblatt mit, als ginge es hier um die Kieler Woche oder ein ähnlich spektakulär anzukündigendes Budenzauber-Spektakel. Bürgerlich-domestizierter Kumpel-Punk mit amtlichen Anti-Bonzen-Lyrics für altgewordene Campinos, altersmilde geworden im Groll auf Bohnerwachs und Spießigkeit. Die „Ich war noch niemals in New York“-Eskapismus-Idee. Bier und Busenfreunde. Ein bisschen zu brunfthaft in seinem plakativen „Augen auf, ich komme!“-Sturm & Drang. Idealistisch, aber altersbedingt etwas zahnlos. Die Udo Jürgens des Pogo-Punk.

The BlowWaves – The BlowWaves - CoverThe BlowWaves – The BlowWaves
(LABEL)

Die hier schicken für ihre 4-Track-EP gleich drei Promoblätter mit, damit ja niemand den arty-konzeptuellen Ansatz zwischen Psychobilly und angeschwurbeltem Schminkpop missversteht. Synthlastiger Garage-Glam mit Kajal und Corporate Identity. Nenn es Electrobilly. Live sicher ’ne Augenwucht.

Lovvers – OCD Go Go Girls - CoverLovvers – „OCD Go Go Girls“
(Wichita / Cooperative Music / Universal)

Durch Blechbüchsen gedroschenes Garage-Gekloppe, bei dem man den Gesang nicht versteht. Klingt super! Creepy Teenage-Nihilismus mit fingerkuppenblutigem Gitarren-Twang. Greifen das auf, was Richard Hell mit seinen Voidoids und Tom Verlaine mit Television vor internetloser Grauzeit gemacht haben. Haben mit ähnlich gelagerten DIY-Bands wie Thee Oh Sees, No Age und Hipshakes eine lebendige Szene um sich herum.

pixie-carnation-fresh_poems-ep-coverPixie Carnation – „Fresh Poems“
(self-released)

Breitformatiger Eigenvertriebs-Independent-Rock à la Arcade Fire in etwas poppiger, mit kernigem, springsteenschem Pathos. Hätte etwas verwegener ausfallen können. Was Glenn Branca für E-Gitarren in Ensemblegröße komponiert hat, deutet sich hier in treibender Repetivität zuweilen an, mutiert aber durch verknödelten Holzfällerhemden-Gesang zu einer Art Pearl Jam meets Merge Records.

vic-chesnutt-mitte-ende-august-coverVic Chesnutt – „Mitte Ende August“
(City Slang)

Was The Notwist für „Lichter“ gemacht haben, macht Vic Chesnutt für Sebastian Schippers filmische Spätsommer-Melancholik „Mitte Ende August“. Dieser Soundtrack ist hypnotischer, minimalistischer, sphärisch-abendlichtiger bis unheilvoll lärmender Doomfolk. Inklusive Cover von Kylie Minogues „Come Into My World“. Erinnert an Bruce Langhornes Soundtrack zu Peter Fondas Antiwestern „The Hired Hand“. Trifft und trägt den stillen Ton des Filmes sehr gut.

The Big Pink - A Brief History Of Love - CoverThe Big Pink – „A Brief History Of Love“
(4 AD / Beggars Group / Indigo)

Hier wird dick aufgefahren. Die digitalen Velvet Underground wollen die beiden von The Big Pink sein. Deren beharrlich-bedrogter Gleam’n’Glimmer in experimental-rockistischer Naivität wird hier in kompressorengefetteten Klangwand-Kaleidoskopen aus gerade noch so, wie es die Dramatik des Drones erfordert, kontrollierten Feedbacks neu ausgefaltet. Hypnotische Schellenring-Psychedelic trifft auf britisch-bolzigen Knallchargen-Industrial. My Bloody Valentine meets Alec Empire. Manchester Rave gewordener Sportshoegaze. In den ruhigen Momenten Brit-Rock, der kreidebleiche Glücksgesichter auf Clubtoiletten spiegelt. Entfesselte Screamadelica. Brüllfett produziert, bei hohen Laustärken mit fast physikalischer Wucht aus den Boxen jagend. Treibend wie Telegym. Der Vodka in deinem Energydrink.

taken-by-trees-east-of-edenTaken by Trees – „East of Eden“
(Rough Trade / Beggars Group / Indigo)

Ein, mit Victoria Bergsman (Ex-The Concretes) & Gästen, in Stockholm & Südasien wurzelndes Update – das überzeugendste seit Joanna Newsoms ersten Album – in Sachen Ethno-Folk. Durchgeistigte Fusion aus waldschratigem Weirdfolk, pakistanischer Volksmusik & skandinavischer Freude an halbschläfrigem Schlurf. Musik, die man sich ausdenkt, wenn man in der Hängematte liegt und der Strand ganz weiss ist. Kein breitkrempiger Raffaello-Grandezza-Quatsch, sondern charming Welt-Folk zwischen Field Recordings, Tranquilizer-Fuzz von Mazzy Star und Improv-Psych von Bardo Pond. Ganz nebenbei wird das Animal Collective gecovert und im Gastgesang mit Noah Lennox aka Panda Bear gefeatured. Drag City hats anscheinend verschlafen die zu signen, und wenn Devendra Banhart seinem „Golden Apples Of The Sun“ einen zweiten Folkhausen-Übersichts-Sampler hinterherschickt, sind die hier definitiv drauf. Melodien für tropische Früchte, z.B. Melonen – aus Marijuana. So süß!

the-very-best-warm-heart-africa-coverThe Very Best – „Warm Heart of Africa“
(Moshi Moshi / Cooperative Music)

Schlicht unter dem Namen „The Very Best“ firmiert die Kooperation zwischen Esau Mwamwaya und Radioclit. Ex-Malawi-jetzt-London meets europäisches Producerteam. Aufgedrehter Hakuna-Matata-Indielectro im Sound-Fahrwasser von TV On The Radio, Animal Collective, El Guincho & Cher (die Autotune-Spielchen). Kommt dabei keineswegs trittbrettabräumermäßig daher, sondern wild hüftschüttelnd perkussiv mit Kalimba, Tablas, Steel Drums & joyful ostafrikanischem Jahrmarktsingsang. 2007 mit pitchforkerprobtem, bloggestreutem Mashupmixtape (u.a. The Ruby Suns und Santigold), jetzt mit eigenem Album. Als Gäste: M.I.A. Und Vampire Weekend. Munteres, überkontinentales Zeug!

luckyelephant_starsigntrampolineLucky Elephant – „Star Sign Trampoline“
(Sunday Best Recordings / PIAS)

Was hier wie ein glücklicher Elefant heisst, klingt auch so. Glockenspiel, Schifferklavier, Steel Drums & Space Echo im Ringelrei durchs Independent-Disneyland. Das Penguin Cafe Orchestra von heute. Vocals zwischen Postal Service und TV Personalities. Eklektizisch und soundvernarrt wie The Bees und Broken Social Scene. Manchmal großgestig wie I Am Kloot, dann wieder sehr zurückgenommen mit Wurlitzer-Instrumentals und sleazy, abgehangenem Countryfolk. Bandname und Albumtitel sagen alles: ein glücklicher Elefant auf einem Sternzeichentrampolin.

Autor: Martin Hiller